Das Märchen von den Drei Monatskoliken - Teil 1

 

Vervollständigen Sie bitte folgenden Satz:

 

 

„Mein Baby schreit so viel und ist immer nach dem Trinken unruhig! Dann hat mir

 

[Hier wahlweise Einsetzen]

 

der Kinderarzt

 

die Hebamme

 

die Nachbarin

 

meine Schwägerin

 

die Frau an der Wursttheke

 

 

den Tipp gegeben,

 

[nach Belieben ergänzen]

 

das Mittel XY

 

Fencheltee

 

homöopathische Globuli

 

eine andere Marke des Milchpulvers

 

 

zu geben. Dann ist es

 

[beliebig ankreuzen]

 

sofort

 

nach einigen Tagen

 

mit drei Monaten

 

gar nicht

 

besser geworden“.

 

 

Und jetzt Hand hoch wer das nicht schon gefühlte siebenunddreißig Mal gehört hat. Im letzten Monat.

 

Mir zumindest geht es so, und das nicht nur als Hebamme, sondern auch als Mutter. Das erste Mal, als ich von den Dreimonats-Koliken hörte, war ich selbst schwanger mit meinem ersten Kind. Ich saß im Wartezimmer des Gynäkologen und las die Überschrift auf der Titelseite eines Hochglanzmagazin für Mütter: " Le colichette- Come affrontarle". Ganz im Ernst, damals wusste ich nicht, ob sich diese Koliken auf die Mutter oder auf das Baby beziehen sollten.

 

Es war reiner Zufall, dass mir damals- mein Baby war gerade erst geboren- das Buch von Dr. Joachim Bensel "Was sagt mir mein Baby, wenn es schreit?" in die Hände fiel (Danke Cousine Petra!!!). Das Buch mit dem holprigen Titel und den sachlich-trockenen Schreibstil offenbarte mir: die Dreimonatskoliken gibt es eigentlich gar nicht. Stopp, falsch, es gibt sie schon, aber Studien zeigen eindeutig dass nur in 5% der Fälle Verdauungsbeschwerden dahinter stecken. Stattdessen gibt es für das „Bauchweh“ meist zwei Erklärungen:

 

 

1)      Clustern: Das Baby ist typischerweise in den Abendstunden sehr unruhig und will ständig an die Brust. Es könnte fälschlicherweise die Annahme entstehen, dass es „zu wenig Milch bekomme“, dabei ist genau das Gegenteil der Fall: Durch häufiges Trinken stimuliert das Baby im Köper der Mutter die Milchproduktion, d.h. es sichert sich für den nächsten Tag eine ausreichende Milchmenge. Es gibt sozusagen „die Bestellung auf“. Clusterfeeding tritt in den ersten Wochen auf und dann immer wieder, besonders wenn eine Wachstumsschub ansteht.

 

 

2)      Sogenannte „Schreibabys“. Die genaue Definition von „Schreibaby“ ist dabei irrelevant, die Grenzen zwischen Clustern und Schreibaby sind fließend- schlussendlich geht es dabei um das Erleben der Eltern. Warum aber weinen manche Babys mehr als andere? Menschenkinder kommen als physiologische Frühgeburten zur Welt, d.h. in einigen Bereichen brauchen sie einfach noch Zeit zum Reifen. Das Nervensystem mancher Kinder ist dabei unreifer als bei anderen und besitzen vorübergehend (!) eine veränderte Regulationsfähigkeit: Diese Babys steigern sich viel schneller vom Quengeln zum verzweifelten Schreien und brauchen viel länger, um sich wieder zu beruhigen. Sie gehen sozusagen von Null auf Hundert und kommen alleine nicht wieder runter. Und dann kommt auch die andere Seite ins Spiel: Eltern, die in einer solchen Situation verständlicherweise innerlich angespannt, überfordert, verzweifelt, wütend sind. Babys reagieren darauf erst recht mit Unruhe und weinen, und so dreht man sich in eine unglückliche Spirale. The good news: bei vielen Kindern ist diese Regulationsfähigkeit mir etwa 3 Monaten reifer, häufig wird es dann besser.

 

 

Aber wie kommt man dann überhaupt auf den Begriff der „Kolik“? Weil das Weinen mehr oder weniger Begleitsymptome aufweist, wie ein geblähter Bauch, ein allgemein angespanntes Baby, das sich krümmt, Luft im Bauch. Dabei scheint gerade die Luft im Bauch eher Folge des Weinens sein, anstatt Ursache: Weint das Baby untröstlich, schluck es dabei manchmal viel Luft. Gegen die „Kolik-Theorie“ spricht auch die Tatsache, dass diese Unruhephasen vermehrt abends auftauchen (als ob das Baby nur abends verdauen würde), und dass viele Kinder Luft im Bauch haben, ohne deshalb sehr zu weinen.

 

 

Heute bin ich Hebamme und mir ist es ein Rätsel, warum diese Info sich noch nicht verbreitet hat. Damit meine ich nicht mal die Eltern, sondern in erster Linie das Fachpersonal, welches sich doch an den neusten Erkenntnissen orientieren sollte.

 

 

Übrigens: per Definition eignet sich die Dreimonatskolik nur für die ersten Monate. Danach nennen wir das Ganze:

 

[nach Bedarf einsetzen]

 

die Zähnchen

 

der Mond

 

eine Entwicklungsphase

 

......

 

 

Hey, das ist okay! Wir fühlen uns nun mal besser, wenn wir den Dingen Namen geben! Von mir aus können wir auch weiter "Dreimonatskoliken" sagen, nur erinnern wir uns daran, dass nicht so sehr die sanfte Massage das Bauchweh löst, sondern vor allem unsere liebevolle Zuneigung einem Baby hilft, dessen Grundbedürfnisse Körperkontakt und Zuwendung sind.

 

 

 

Im 2. Teil von „Das Märchen von den Drei Monatskoliken“ liest du, was in solchen schwierigen Momenten helfen kann (und was eher nicht).

 

 

 

 

 

Buch- und Webtipps zum Thema:

 

 

N. Schmidt: Artgerecht (Kösel 2015): Kurzweilig beschreibt die Autorin die Basics einer bindungs- und bedürfnisorientierten Leben mit Babys.

 

H. Renz-Polster: Kinder verstehen.(Kösel 2013) Für alle die sich schon mal gefragt haben, was sich die Natur bei so manchen Eigenheiten unserer Menschenbabys gedacht hat.

 

Dr. J. Bensel: Was sagt mir mein Baby, wenn es schreit? (ObersteBrink 2003)  Mittlerweile etwas veraltet, analysiert das Weinverhalten von Babys aus wissenschaftlicher Sicht. Zum Thema „Schlafen“ gibt es Besseres.

 

 

 

 

www.nora-imlau.de/blog Unterhaltsam-tiefsinnige Blogs zum Thema bedürfnisorientierte Elternschaft, unter Anderem zu den Themen „Schreien lassen“ und „anspruchsvolle Babys“

 

www.uppa.it Rivista bimestrale per genitori: il numero speciale “il pianto del bambino” (lo trovi in versione pdf gratuita, scaricabile dal sito) parla di falsi miti e nuove conoscienze riguardo ai bambini che piangono.